Was ist Natur, was ist Wildnis

Wildnis ist, wie auch Natur, kein eindeutig definierbarer Begriff. Beide sind soziokulturelle Konstrukte. Die jeweiligen Bilder sind geprägt von der Kultur des Landes, vom engeren ge- sellschaftlichen Umfeld und von ganz persönlichen Erfahrungen. Aristoteles definierte Natur in Abgrenzung zur Kultur als das, was aus sich selbst heraus entsteht. Wer also Natur schützen will, muss dieses Entstehen ungestört zulassen. Mit dieser „fundamentalen“ Definition von Naturschutz verliere ich aber schon jetzt den engagierten Naturschutzaktivisten als Leser. Denn, so seine Einstellung, wenn ich mit geeigneten Mitteln in die Natur eingreife, kann ich Natur viel besser entstehen lassen. Ist denn nicht tatsächlich der Übergang zwischen Kultur und Natur fließend? Der Mensch nimmt z.B. Natur in Kultur, wenn er einen wilden Bergwald rodet und eine Wiese anlegt. Die Pflanzen, die auf ihr wachsen, unterliegen aber trotzdem natürlichen Prozessen. Deshalb sind vom Menschen gemachte Bergwiesen den von Natur aus waldfreien Tundren oft erstaunlich ähnlich.
Somit ist die aristotelische Definition als Orientierung für unseren Umgang mit der Natur nicht sehr geeignet. Wäre sie es, hätte sie lange genug Zeit gehabt, Akzeptanz zu finden. Natur ist also lediglich dasjenige, was wir als Natur sehen wollen. Wenn wir Natur schützen, versuchen wir, einen Zustand zu erhalten, den wir für Natur halten. Naturschützen beinhaltet in aller Regel das Unterdrücken natürlicher Prozesse. Im Begriff „Entbuschung“, d.h., dem Verhindern des natürlichen Prozesses der Sukzession, manifestiert sich diese flexible und einzelfallspezifi- sche Definition von Natur: Das unerwünschte Gestrüpp wird eben nicht als Natur aufgefasst, sondern als Störung der Natur. Meist lässt sich für diese „Störung“ der Natur eine menschen-gemachte Ursache konstruieren, womit die letzten stillen Zweifel ausgeräumt werden können. Oft gilt die Störung des „Ökologischen Gleichgewichts“ fast schon als Verpflichtung, einzu-greifen. Naturschutz ist jedoch auch, eben jene Büsche und Bäume andernorts zu pflanzen, wo vielleicht natürlicherweise andere Pflanzen gewachsen wären. Wer diese widersprüchliche Denkwiese durchschaut, rechtfertigt die Eingriffe des Naturschutzes oft augenzwinkernd mit dem Spruch „Der-Natur-auf-die-Sprünge-helfen“. Schwerpunkt im Naturschutz ist deshalb das Offenhalten von Landschaften für liebgewonnene Arten, die aus natürlicherweise waldfreien Landschaften in einstige Kulturlandschaften eingewandert sind. Unser Naturbild ist nostal-gisch, offensichtlich geprägt von Pastoralen. Man sagt aber hierzu nicht etwa „liebliches Wei- deland“, sondern „wertvolle Kulturlandschaft“. Gemeint ist der Zustand, wie er vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten geherrscht haben mag bzw. reliktisch oder museal erhalten ist. Als be- sonders wertvoll werden ehemalige Truppenübungsplätze und Todesstreifen erachtet, Land- schaften, denen Kultur nur zynisch zugeschrieben werden kann. Kulturlandschaften heutiger Prägung, dazu kann man die Außenanlagen von Großflughäfen zählen, werden dagegen (noch) abgewertet, auch wenn sie erstaunlich artenreich sind. Die vom Naturschutz abgelehn- ten Maisäcker sind, soweit sie nicht übergroß sind, z.B. für Kiebitze bessere Nistplätze als naturgepflegtes Grünland nebenan.
Bei all diesen Widersprüchlichkeiten stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung für den Naturschutz.
Aus diesen Überlegungen könnte abgeleitet werden, wie das Zulassen von Wildnis begründet werden kann.
Die Ökologie – sie soll hier als die Wissenschaft und nicht als die diffuser Livestyle verstan- den werden – beschäftigt sich mit der Natur, ohne „Natur“ definieren zu müssen. Der Wissen- schaftler entwickelt Modelle, um mit mathematischen, statistischen und naturwissenschaft-lichen Werkzeugen natürliche Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben. Diese Modelle bezeichnen sie als „Ökosysteme“. Ökosysteme sind also definitiv keine real existierenden Ausschnitte aus der Natur, auch wenn Landschaften so bezeichnet werden, selbst von Experten. Ein Ökosys- tem kann deshalb nicht zerstört, sondern nur verändert werden, denn ein Rechenmodell ist nicht zerstört, wenn man einen Parameter oder dessen Zahlenwert ändert. (So wie der Begriff „Ökologie“ wurde auch das „Ökosystem“ trivialisiert). Zur Beschreibung von Ökosystemen werden aus einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Parametern solche ausgewählt, die ausreichen, Prozesse umfassend erklären zu können.
Wie die Ökologie „Natur“ nicht definiert, kann sie auch „Wildnis“ nicht definieren. Sie kann Lebensräume, die man als Wildnis bezeichnen könnte, als Ökosysteme auffassen, aber da- raus nicht schließen, dass es sich bei ihnen um Wildnis handelt. Deshalb kann der Ökologe umgekehrt auch nicht sagen, es gäbe z.B. in Deutschland keine Wildnis.
Wenn der Naturschutz mehr Wildnis – oder besser: Nationalparke – fordert, sollte er jedoch sagen können, was unter Wildnis zu verstehen sein kann. Für eine Umsetzung der Wildnis- idee ist also eine Definition notwendig, die in sich schlüssig ist, allgemein akzeptiert und praktisch umgesetzt werden kann.
Zu diesem Zweck wird ein Konzept vorgeschlagen, in dem analog zu Ökosystemen „Wildnis-systeme“ definiert werden. Die Definition von Wildnissystemen enthält eine grundsätzliche Prämisse, die sich nicht naturwissenschaftlich belegen lässt und ganz bewusst auch nicht rational belegt werden soll. Sie besteht darin, dass auf einer definierten Fläche jeglicher ge- zielte Eingriff durch den Menschen unterbleibt. Diese Bedingung ist ästhetischer Natur und ökologisch unerheblich. Denn die Ökologie erkennt keinen Unterschied, ob ein verrottender Baum vom Sturm oder vom Menschen gefällt worden ist. Für experimentelle Untersuchungen sind gezielte Eingriffe sogar durchaus zulässige und sinnvolle Methoden in der Ökologie.
Mit der Prämisse des fehlenden gezielten menschlichen Eingriffes grenzt sich die Beschäfti- gung mit der Wildnis von der Ökologie als Wissenschaft ab. Diese Einschränkung bedeutet jedoch nicht, dass die Wildnisidee nicht auch Gegenstand der Wissenschaft sein kann, aber eben nicht der Ökologie.
Ohne willkürliche (d.h. aber nicht unvernünftige) Vereinbarungen kommt übrigens auch die wissenschaftliche Statistik bzw. Teilchenphysik nicht aus, wenn sie z.B. für „signifikant“ die Wahrscheinlichkeitsgrenze von 95% festlegt, warum nicht 92,5 oder 96,333? Ein Nachweis von „Schwarzer Materie“ scheiterte kürzlich in der Grauzone der willkürlich festgelegten Signi- fikanz von Messsignalen, also an einer (vernünftigen) Konvention innerhalb der community.

Wildnissysteme sind wie Ökosysteme keine real existierenden Landschaften. Beide Systeme sind Modelle für das Verständnis von Lebensräumen, das Ökosystem auf wissenschaftlichem Weg, das Wildnissystem über die Ästhetik.
Wenn eine Landschaft als Wildnissystem verstanden und ästhetisch wahrgenommen wird, entsteht ein Bild von Wildnis. Es ist von Mensch zu Mensch verschieden. 
Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass auch ein nahezu absolut menschenleeres Land nicht unmittelbar als Wildnis wahrgenommen wird. Diese kann nur erfahren werden, wenn die ökologischen Zusammenhänge in diesem Gebiet hinreichend verstanden sind und die Krite- rien für ein Wildnissystem erfasst sind. Das Fehlen menschlicher Prägungen von Landschaf- ten erschließt sich nicht sofort dem Bewusstsein. Das Verinnerlichen fehlender menschlicher Eingriffe ist dadurch erschwert, dass unsere Wahrnehmungen des Umfeldes durch die Erfah- rungen in Kulturlandschaften geprägt sind.
Wildnis ist also ein Bild im Kopf – ein Bild, das streng genommen nicht einfach als Foto ge- knipst werden kann.
Die Darstellung von Wildnis in Worten oder Bildern ist ein künstlerischer Akt der mehr oder weniger gut gelingt. Er besteht in der Umsetzung der inneren Bilder, der Eindrücke, die eine Landschaft zur Wildnis machen. Auch wenn diese Darstellung oft genug misslingt, muss deshalb nicht generell die Wildnis-Ästhetik als Naturschwärmerei abgetan werden oder als Trick zur Umsatzsteigerung in der Touristik.
Die Emotionen bei der Beschreibung von Wildnis kommen in ihrer ganz persönlichen Wahr- nehmung als bedrohlich, chaotisch, friedlich, erhaben, großartig, bedrückend, befreiend zum Ausdruck.