Definition von Wildnissystemen

Analog wie die Ökologie „Ökosysteme“ definiert und nicht „Natur“, werden im Folgenden „Wildnissysteme“ und nicht „Wildnis“ definiert.

Prämisse
Die Definition von Wildnissystemen stützt sich, wie der Naturschutz, auf ökologische Erkennt- nisse. Während aber der Naturschutz die Ökologie als (unzulässige) Rechtfertigung bean- sprucht, gilt bei der Definition von Wildnissystemen die Ästhetik als Grundidee. Die Ästhetik äußert sich in der bewussten Wahrnehmung von natürlichen Prozessen und deren Ergeb-nissen, die der Mensch nicht bewusst beeinflusst.
Demnach ist ein Lebensraum dann ein Wildnissystem, wenn der Mensch nicht gezielt in na- türliche Prozesse eingegriffen hat und indirekte Eingriffe von gezielten Eingriffen in ihrer öko- logischen Wirkung eindeutig zu unterscheiden sind. Indirekte Wirkungen gelten dann als ge- zielt (quasi als billigend in Kauf genommen), wenn sie stochastisch sind, also unmittelbar zu einer Beeinträchtigung des Lebensraumes führt. Ist die Wirkung dagegen nur statistisch nachweisbar und schwächer als Wirkungen natürlicher Prozesse, sollen indirekte Wirkungen als nicht gezielt gelten.
Beispiele:
Wenn ein Landwirt sein Feld mit Herbiziden spritzt und diese vom Wind in einen daneben liegenden Lebens- raum verdriftet werden, und davon Pflanzen ganz oder in Teilen absterben, kommt die Wirkung einer direkten Spritzung gleich. Die Auswirkung ist stochastisch. Ist die Herbizidwirkung dagegen allenfalls statistisch nach- weisbar, werden also Pflanzen- und/oder Tiergesellschaften möglicherweise und mehr oder weniger stark beeinflusst, soll dieser Einfluss nicht als direkter Eingriff gewertet werden, zumal wenn andere, natürliche Faktoren wie Trockenperioden sich relativ zur indirekten Herbizidwirkung stärker auswirken können. Ähnliches gilt für den Stickstoffeintrag direkt durch Mineraldünger bzw. gasförmig durch die Luft.
Der Eintrag von künstlichem Cs-137 ist eindeutig vom Menschen verursacht. Solange es sich jedoch auf das Ökosystem nicht eindeutig auswirkt oder anders auswirkt als das vorhandene, natürliche K-40, ebenfalls ein harter Gammastrahler, ist der Einfluss von Cs-137 auf ein Wildnissystem unerheblich. Der Einwand, wegen der weltweiten Verbreitung eines künstlichen Radionuklids gäbe es keine Wildnis mehr, wird dadurch relativiert.
Ein standortgerechter Wildbestand gilt als indirekter Einfluss. Wird Wild jedoch gezielt eingeführt, nachbesetzt und/oder gefüttert und/oder werden natürliche Prädatoren dezimiert, wird dieser Einfluss auf die Waldvege- tation biligend in Kauf genommen und gilt damit gezielt. Ein derartiger Lebensraum gilt also nicht als Wildnissystem.

Kennzeichnung eines Wildnissystems
Ein Wildnissystem ist gekennzeichnet durch spezifische Merkmale, in denen es sich von an- deren Ökosystemen abgrenzen lässt. Diese Merkmale werden durch natürliche Prozesse geprägt. Auf diese Prozesse wirken Einflussfaktoren. Diese lassen sich einordnen in Böden/Geomorphologie, Vegetation, Herbivoren und Prädatoren. Je nach Wildnissystem haben die Einflussfaktoren ein unterschiedliches Gewicht. In der Berücksichtigung dieser Gewichtung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Wildnissysteme, je nachdem, welche Prozesse bestimmend für dieses System sind, unterschiedlich empfindlich auf menschliche Eingriffe reagieren.
Für ein Wildnissystem „Wildfluss“ ist z.B. der potentielle Einfluss durch Prädatoren unerheblich, verglichen mit dem Einfluss der Flussdynamik. Werden also in diesem Wildnissystem Prädatoren verfolgt, hat dies keinen merklichen Einfluss auf das System. Für das Wildnissystem „Hochmoor“ ist wiederum der Einfluss der Vegetation auf die Moorbildung wesentlich bedeutsamer als der Einfluss von natürlich vorkommenden Herbivoren. Für das Wildnissystem „Subarktischer Birkenwald“ sind dagegen Herbivoren, insbesondere Rentiere und Birkenspanner, von besonderer Bedeutung.
Der Wildnischarakter ergibt sich daraus, wie stark der Mensch in die prägenden Prozesse eingreift, d.h., wie stark er die entscheidenden Faktoren beeinflusst. Einige Wildnissysteme wie potentiell die Auwälder reagieren unempfindlich, solange die Hochwasserdynamik erhal- ten bleibt. Tundren und Hochmoore reagieren dagegen sehr empfindlich auf menschliche Eingriffe. Sie sind wenig resilent, d.h., der Zustand vor dem Eingriff wird nur sehr langsam oder gar nicht mehr erreicht. (Wobei es mangels direktem Vergleich schwierig sein kann zu erkennen, welcher Zustand ohne menschlichen Einfluss herrschen würde). Unterbleiben aber ab einem Eingriff weitere, kann daraus ein anderes Wildnissystem entstehen. Denn wie ein Ökosystem kann auch ein Wildnissystem nicht zerstört, sondern nur verändert werden, solan- ge die Kriterien für das Wildnissystem gelten.
Das Wildnissystem kennt keine Leit-, Charakter- oder Indikatorarten, wie sie der Naturschutz oder z.T. die Pflanzensoziologie kennt. Ein Wildnissystem erfordert also nicht die Anwesen- heit bestimmender bzw. bestimmter Arten, um es als solches zu kennzeichnen. Damit entfällt die im Artenschutz problematische, pseudoobjektive Wertung von Arten, somit auch die Ab- wertung "invasiver" Arten. Eine Art kann durchaus individuell ästhetisch bewertet werden. Aus dieser Wertung ergibt sich jedoch keine Handlungsanweisung, insbesondere keine, die als allgemeingültig dargestellt wird.
Der Wolf z.B. ist lediglich für einige wenige Wildnissysteme bedeutsam, die sich alle außerhalb Mitteleuropas befinden. Im Wildnissystem „Auwald“ kommt z.B. zwar der Grauspecht mit hoher Stetigkeit vor, seine Anwesenheit als Brutvogel ist aber nicht bestimmend für dieses Wildnissystem, sondern die Hochwässer. Das Vorkommen des Spechts ist Teil der ästhetischen Wahrnehmung. Kommt der Grauspecht wider Erwarten nicht oder nach naturschutzfachlicher Wertung in zu geringer Dichte vor, ergibt sich daraus keine Begründung für entsprechende Artenhilfsmaßnahmen.
Der Flächenbedarf eines Wildnissystems ist abhängig von den prägenden Prozessen und deren Beeinflussung durch Randeffekte. Eine pauschale Mindestgröße ist nicht zu begründen.
Tundren z.B. benötigen als Wildnissystem wesentlich mehr Fläche als eine Felswand im Jura oder ein verlandender Tümpel.
In Deutschland sind nach obiger Wildnissystematisierung folgende Wildsysteme möglich und z.T. vorhanden: Wildflusslandschaften, Auwälder, Schluchtwälder, Bergwälder, Felslandschaften, Hochmoore, Niedermoore/verlandende Gewässer.

Beispiel 1: Wildnissystem Hochmoor
Spezifische Merkmale: Artenarmut in Flora und Fauna, bedingt durch Nährstoffarmut, tiefer pH, Sauerstoffarmut des Bodens sowie dessen hoher Wassergehalt und ein dadurch bedingtes, kühles Mikroklima.
Prägende Prozesse: Humusbildung durch Torfmoose und Wollgräser, räumliche und zeitliche Entkoppelung der Nährstoffdynamik in Böden und lebenden sowie toten Holzgewächsen (Nährstoffspeicherung in Bäumen und Zwergsträuchern).
Einflussfaktoren: Hochmoore gehören zu den wenigen Lebensräumen, die ihre Böden und ihre Geomorphologie aus sich selbst heraus entstehen lassen. Der Einfluss durch Herbivoren ist gering, da die Vegetation nur von wenigen Spezialisten verwertet werden kann. Dementsprechend ist die An-/Abwesenheit von Prädatoren ohne merklichen Einfluss. Der entscheidende Faktor ist das ungestörte Wachstum der Vegetation, also von Moosen, Gräsern, Sträuchern und Bäumen. Die Entbuschung von Mooren als Naturschutz entspricht der Umwandlung des Hochmoores als Wildnissystem in das Imitat einer Kulturlandschaft. Gegenüber Freizeitnutzung ist dieses Wildnissystem relativ tolerant, weil Betretungen wegen der schwierigen Zugänglichkeit ohnehin begrenzt sind.

Beispiel 2: Wildflusslandschaft
Spezifische Merkmale: Rohböden mit jungen Sukzessionsgesellschaften, Pionierpflanzen und –Tieren. Hohe Dynamik in der Geomorphologie und in Tier- und Pflanzengesellschaften.
Prägender Prozess: Korngrößenspezifische Erosion und Sedimentation von Bodenmaterial und Geschiebe durch Hochwässer
Einflussfaktoren: Dieser Prozess wird im Vergleich zur Dynamik des Wildflusses kaum beeinflusst durch Pflanzenfresser und demnach auch nicht durch Fleischfresser. Die Vegetation ist entscheidender, da sie auf Erosion und Sedimentation wirken. Sie ist auch Nahrung z.B. für Biber und Elch, doch das Wachstum der Pionierpflanzen ist wesentlich rascher als der Fraß durch diese Arten. Dieser Wildnistyp wird im Wesentlichen nur durch Flussregulierung beeinflusst, sowie durch Beseitigung der standorttypischen Auwaldgesellschaften. Wenn von den vorübergehenden Veränderungen der natürlichen Strukturen der Kies- und Sandablagerungen abgesehen wird, ist dieses System sehr tolerant gegenüber Freizeitnutzung. Dies zeigt sich z.B. an der raschen Sukzession solcher Kiesflächen.

Beispiel 3: Auwald
Spezifische Merkmale: Schnellwüchsige Weichholzbaumarten mit dichtem Unterwuchs auf meist nährstoffreichen, bodengenetisch jungen Standorten.
Prägender Prozess: Mehr oder weniger regelmäßige Überflutungen und dadurch Zufuhr von Feinsedimenten und Nährstoffen, die eine starke Pflanzenentwicklung zur Folge haben.
Einflussfaktoren: Der Einfluss durch Herbivoren ist wegen der starken Wüchsigkeit der Vegetation gering. Deshalb wird der Auwald kaum durch einen standortgerechten Wildbestand beeinflusst. Folglich ist auch die An/Abwesenheit von Prädatoren unerheblich. Dieses System wird im Wesentlichen durch Flussregulierungen beeinflusst. Wegen der meist schwierigen Begehbarkeit reagiert der Auwald als Wildniswald sehr unempfindlich auf Freizeitnutzungen.